Sie musterte sich ein letztes Mal im Spiegel. Was sie sah gefiel ihr. Früher hatte sie nie diesen Aufwand betrieben. Aber da hatte sie auch keine Wert darauf gelegt, Eindruck zu hinterlassen.
Doch dieses Mal, doch dieses Mal legte sie es darauf an. Sie wollte es dieses Mal schaffen – dieses Mal war für sie persönliche die letzte Chance. Sollte sie es heute nicht schaffen dann würde sie es nicht noch einmal versuchen. Dann war es für sie endgültig vorbei. Welche Konsequenz sie daraus auch immer ziehen würde.
Ganz am Anfang hatte sie gedacht: „Die sollen doch machen, was sie wollen. Mich bekommen die nicht!“. Die …. das waren die Behörden. Und bekommen wollten diese sie in die Schule.
Damals, als das Gesetz geändert wurde, war sie – wie so viele gleichaltrige und jüngere – der Ansicht gewesen, dass man sie jetzt nie mehr zwingen könnte, in die Schule zu gehen.
Endlich kein Zwang mehr, was zu lernen, was einen ohnehin nicht interessierte.
Und das man noch dazu für ewig in der Schule bleiben konnte und auch wie ein Kind behandelt wurde, war toll! Man erhielt alle Vergünstigungen wie ein Kind – billigere Karten für’s Schwimmbad und Kino, beinahe kostenlose Fahrt mit den Öffis, Familienbeihilfe.
Na ja – man durfte halt auch keine Filme im Kino ansehen, die nur für „Erwachsene“ frei gegeben waren. Und „erwachsen“ war man nicht mehr mit dem Erreichen eines gewissen Alters sondern mit der Ablegung einer Prüfung, in der man ein Mindestmaß an Wissen beweisen musste.
Man konnte sich dafür aber so viel Zeit lassen, wie man wollte.
Na gut – man durfte nicht abends alleine fort gehen und auch keine Lokale besuchen, welche „Erwachsenen“ vorbehalten waren. Und man war nicht zeichnungsberechtigt was die eigenen Vermögensverhältnisse anging. Man bekam auch keinen eigenen Pass – oder wenn, dann einen mit eingeschränkten Reisemöglichkeiten, wie dies für minderjährige Kinder früher gewesen war.
Waren die Eltern bereits gestorben so übernahm eine staatliche Stelle die Position des Vormunds.
Und man durfte nicht wählen, keinen Alkohol trinken, nicht rauchen – zumindest nicht offiziell.
Sie hatte die 4 Jahre Volksschule und die 1. Klasse eines Gymnasiums besucht. Dann aber hatte sich ihr Interesse anderen Dingen zugewandt. Und sie war in der 2. Klasse hängen geblieben.
Da sie den Unterricht nur sehr selten besuchte bekam sie keinen Abschluss für diese Klasse. Und das hatte sich mehr als zehn Jahre lang nicht geändert.
Aber dann hatte es sie immer mehr gestört, dass sie so viele Dinge nicht durfte, weil sie nicht „erwachsen“ war.
Und dann hatte sie wieder die Schulbank gedrückt und versucht, so schnell wie möglich die Dinge zu lernen, die sie brauchte, um einen gültigen Abschluss für ihre Ausbildung zu bekommen. Dafür hatte sie mehr als fünf Jahre gebraucht – tja, das Lernen war für sie früher halt doch einfacher gewesen.
Aber heute – heute würde sie es endlich schaffen. Dann war sie mit 27 Jahren endlich als erwachsen anerkannt und durfte mit Recht all das tun, was Erwachsene eben so taten.
Späte Erkenntnis: Um Erwachsen zu sein, muss man eben gewisse Dinge können, um nicht nur die Rechte sondern auch die Pflichten ausüben zu können. Und dazu gehört nun einmal Schreiben, Lesen, Rechnen und Wissen über die eigene Heimat!
Aber heute, heute würde sie es schaffen!