Stell dir vor (2) ….

Sie keuchte leicht. Gerade noch hatte sie die nächste Straßenbahn erwischt. Sonst hätte sie mindestens 15 min warten müssen und wäre zu spät an ihren Arbeitsplatz gekommen.

Daran war nur er schuld. Für sie war Pünktlichkeit eine Tugend und Unpünktlichkeit bereitete ihr beinahe körperliches Unbehagen.

Ihre Chefin und die Kolleginnen und Kollegen schätzten diese Einstellung sehr. Sie war immer pünktlich – da konnten sich die anderen drauf verlassen. Und es selbst mit dem Eintreffen bis zum offiziellen Arbeitsbeginn nicht so genau nehmen.

Aber heute hätte er es beinahe geschafft.

Wenn er  10 min später gekommen wäre dann wäre sie schon weg gewesen. Sie ging immer lieber ein bisschen früher weg und war dann eben eine halbe Stunde früher in der Arbeit. Mit ihrem normalen Zeitplan konnte sie ruhig zwei Straßenbahnen versäumen und käme immer noch pünktlich.

Aber er hatte das beinahe verhindert. Beinahe – aber es war das letzte Beinahe gewesen.

Sie hatte sich schon verkrampft, als sie den Schlüssel im Schloss hörte. Absolut ungewöhnlich, dass er – wenn er die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen war – so früh am Morgen in die Wohnung zurück kam.

Áls er betrunken und nach Rauch stinkend die Küche betrat da spürte sie die Verzweiflung in sich hoch kriechen. In diesem Zustand war er unberechenbar. Wenn er mit diesen Vorzeichen am Abend nach Hause kam hatte sie schon mehr als einmal für seine Launen büßen müssen.

Aber immer hatte sie danach die Nacht für sich gehabt, hatte sie es geschafft, während er seinen Rausch und seine Aggressionen ausschlief, sich in der Dunkelheit wieder zu fassen. Die augenscheinlichsten Beweise für seine Übergriffe weg zu retuschieren. Und am nächsten Tag wieder pünktlich an ihrer Arbeitsstelle zu erscheinen.

Doch heute war er erst morgens in diesem Zustand aufgetaucht. Und wenn sich alles so abspielte wie üblich dann würde sie es sicher nicht schaffen, zur gewohnten Zeit auf ihrem Arbeitsplatz zu erscheinen.

Sie würde nicht rechtzeitig dort sein – wenn sie überhaupt dort sein würde.

Als ihr das klar wurde verwandelte sich ihre Verzweiflung in Zorn. Und als sie seine Hände auf ihren Schultern spürte ……

Glücklicherweise hatte sie die Müllfahrzeuge schon kommen sehen, als sie das Haus verlassen hatte.

Und die anderen Mitbewohner waren es gewöhnt, dass sie an ihrem Waschtag die Waschmaschine bereits einschaltete, bevor sie zur Arbeit ging.

Nur das Messer, das hatte sie noch in ihrer Tasche. Aber wenn sie den Donaukanal auf ihrem Weg zur Arbeit überquerte würde sich niemand etwas dabei denken, wenn sie einen großen Schneeball ins Wasser warf.

Und vermissen würde ihn ohnehin niemand.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert